Wie schreibe ich eine Gedichtanalyse?
Der folgende Artikel gibt eine Übersicht über den Aufbau einer Gedichtanalyse und zeigt Schritt für Schritt auf, welche Schwerpunkte im Bearbeitungsprozess gesetzt werden müssen.
Häufig fallen zwei unterschiedliche Begriffe, wenn es um das analysieren von lyrischen Texten geht: Gedichtanalyse und Gedichtinterpretation. Beide Begriffe unterscheiden sich durch ihren Operator in einem nicht unwesentlichen Maße, denn zwischen "Analysieren" und "Interpretieren" liegen inhaltlich Welten. In der Schule ist dennoch immer der gleiche Bearbeitungsprozess gemeint, auch wenn beide Begriffe etwas unterschiedliches versprechen. Streng genommen müsste es daher eigentlich Gedichtinterpretation heißen, da Lyrik nie einfach nur formal und sprachlich analysiert wird, sondern immer einen darüber hinausgehenden interpretatorischen Teilaspekt beinhaltet. Außerdem: Wer die Aufgabenstellung gründlich ließt, wird den Vorstellungen des Lehrers auch am nächsten kommen. Dort verstecken sich immer wichtige Hinweise, auf welche Gesichtspunkte in der Gedichtanalyse besonderen Wert gelegt werden soll.
Wie auch andere Aufsatztypen, darunter z.B. Charakterisierungen, Szenenanalysen oder Inhaltsangaben, folgt die Gedichtanalyse einem immergleichen Aufbau bestehend aus Einleitung, Hauptteil und Schluss. Von dieser Reihenfolge darf nie auch nur im geringsten abgewichen werden. Folgend nun ein beispielhafter Aufbau, wie eine Gliederung einer Gedichtanalyse aussehen könnte:
Aufbau Gedichtanalyse:
1.) Einleitung:
- Autor
- Titel des Gedichtes
- Erscheinungsjahr und Entstehungszeitraum
- epochale Einordnung (z.B. Weimarer Klassik, Expressionismus usw.)
- Gedichtart (z.B. Sonett)
- Deutungshypothese / Interpretationshypothese
2.) Hauptteil:
2.1. Inhalt- Inhalte der Strophen wiedergeben
2.2. Formaler Aufbau:
- Verse und Strophen
- Metrum (Jambus, Trochäus, Daktylus, Anapest)
- Reimschema
- Reimart
- Kadenzen
2.3. Interpretation:
- Chronologische Interpretation der einzelnen Verse unter Berücksichtigung von:
- Wortfelder
- epochale Bezüge herstellen
- Untersuchung der Wortarten (Nomen, Verben und Adjektive)
- Syntax
- Rhetorische Mittel
- Lyrisches Ich
3.) Schluss:
- Zusammenfassung der Analyseergebnisse
- Rückbezug auf die Deutungshypothese / Interpretationshypothese
- Intention des Textes
- Einordnung in die Epoche (ist das Gedicht typisch für die Zeit in der es entstand?)
- Biographische Informationen zum Lyriker
- möglicher Adressat des Gedichts?
- Persönliche Wertung
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Gedichtanalyse schreiben - Schritt für Schritt Anleitung
Bevor man mit der Gedichtanalyse startet, sollten einige Vorarbeiten erledigt werden. Eine gründliche Vorarbeit spart beim Schreibprozess später Zeit und Nerven. Drei bis vier Mal sollte das Gedicht komplett durchgelesen werden. Im ersten Leseprozess ist es ratsam, das Gedicht nur auf sich wirken zu lassen. Der zweite Lesedurchgang eignet sich dann, um sich den Inhalt vor Augen zu führen. Dazu versucht man, den Kerninhalt der einzelnen Strophen in möglichst wenig Worten zusammenzufassen und neben die einzelnen Strophen zu schreiben. Im dritten und vierten Durchgang werden rhetorische Stilmittel, Wortfelder und andere Auffälligkeiten mit verschiedenen Farben markiert. Außerdem müssen die Formalien wie Verse, Strophen, Reimschema, Reimart und Metrum festgestellt werden. Das Bild rechts zeigt beispielhaft, wie eine solche Vorarbeit für die Gedichtanalyse visuell aussehen könnte.
Nachdem die Vorarbeiten erledigt wurden, kann mit der Einleitung der Gedichtanalyse begonnen werden. Informationen wie
Autor, Titel des Gedichts, Erscheinungsjahr und Entstehungszeitraum sind allesamt anzugeben, sofern sie aus dem
Gedicht und den zusätzlich vom Lehrer gegebenen Informationen hervorgehen. Dagegen muss die Angabe der Gedichtart,
als auch die epochale Einordnung aufgrund des eigenen Hintergrundwissens erfolgen. Die meisten Gedichte gehören
keiner spezifischen Gedichtart an, weshalb dieser Punkt in der Regel übersprungen werden kann.
Ebenfalls in die Einleitung gehört die sogenannte Deutungshypothese. Diese beinhaltet sowohl den persönlichen
ersten Leseeindruck, als auch eine Vermutung, was der Autor mit seinem Gedicht eventuell bezwecken könnte
(Intention). Im ganzen könnte eine Einleitung für eine Gedichtanalyse / Gedichtinterpretation demnach so aussehen:
In dem Gedicht "Die Blume" 1910 von Hans Müller veröffentlicht, geht es um die Beschreibung einer Stadt bei Nacht. Das Sonett, welches sich in die Epoche des Expressionismus einordnen lässt, beschreibt die Motive der Vergänglichkeit, des Zerfalls und der Entmenschlichung des Individuums.
Nach meinem ersten Leseverständnis vertritt Müller die epochentypische Ansicht eines Menschen im Expressionismus. Er steht seiner Zeit kritisch gegenüber und versucht auf den zunehmenden Verfall der menschlichen Gesellschaft hinzuweisen.
Der Hauptteil der Gedichtanalyse gliedert sich in drei Unterpunkte: Inhaltswiedergabe, formale Analyse und Interpretation.
Die Inhaltswiedergabe ist vergleichbar mit einer Inhaltsangabe, bei der die einzelnen Strophen auf das
Wesentliche zusammengefasst werden. Aber Achtung: Dieser Punkt sollte in aller kürze abgehandelt werden
(pro Strophe max. 2-3 Sätze) und darf zeitlich auch nicht mehr als zehn Minuten in Anspruch nehmen, denn der Schwerpunkt
einer Gedichtanalyse liegt nicht in der Widergabe des Inhalts.
Die formale Analyse sollte ebenfalls nicht mehr als zehn Minuten dauern. Im Optimalfall wurde der Großteil dieser
Arbeit schon bei der visuellen Bearbeitung zu Anfangs erledigt, sodass Anzahl der Strophen und Verse, Metrum, Reimschema,
Reimart und Kadenzen nur noch niedergeschrieben werden müssen. Es empfiehlt sich ohnehin, die formale Analyse mehrmals
vor der Klausur zu üben, damit der Vorgang in der Klausur automatisiert ablaufen kann. Wer einmal den Bogen raus hat,
wie man ein Metrum oder das Reimschema erkennt, wird auch im "Ernstfall" keinerlei Probleme mehr damit haben.
Bis zu diesem Zeitpunkt unterscheiden sich gute von schlechten Gedichtinterpretationen nur kaum. Der überwiegende Anteil
der Angaben die bis hierhin gemacht wurden, sind alle mehr oder weniger dem Gedicht selbst zu entnehmen.
Im Interpretationsteil der Analyse gilt es nun anhand des Gedichtes selbstständig mögliche Interpretationen
aufzuzeigen. Dafür gibt es viele Möglichkeiten: Am einfachsten ist es, sich bedeutende Versteile auszusuchen und
ihre Wirkung zu beschreiben. Dabei kann man u.a. den Blick auf die verwendeten Wortfelder, die spezifischen Wortarten
(Nomen, Verben und Adjektive) oder die Satzstellung legen. Werden rhetorische Mittel
erkannt, muss zugleich ihre Wirkung beschrieben werden. Die Stilfiguren zu benennen und ohne Erläuterung "stehen zu lassen"
ist ein grober Fehler und würde dem Wort Gedichtinterpretation schließlich nicht gerecht werden.
Zusätzlich können Bezüge zur Epoche hergestellt werden: Ist das Gedicht typisch für seine Epoche? Wie sah die
Gesellschaft zu dieser Zeit aus? Wo und Wie unterscheidet sich das Gedicht von Gedichten der gleichen Epoche? Welche
Leitmotive aus der Epoche finden sich im Gedicht? Damit die Interpretation überhaupt so eine inhaltliche Tiefe
erreichen kann, muss selbstverständlich Grundlagenwissen aus der entsprechenden Literaturepoche bekannt sein.
Merke: In den gerade genannten Vorgängen liegt der Schwerpunkt einer Gedichtanalyse, weshalb der Großteil der Zeit hierfür
eingeplant werden sollte (siehe Grafik oben für eine mögliche Zeiteinteilung). Ein Gefühl dafür erlangt man am
besten durch wiederholtes üben.
Im Schlussteil der Gedichtanalyse wird zunächst ein Rückbezug zur anfänglichen Deutungshypothese vollzogen. Wurde
der erste Eindruck bestätigt? Handelt das Gedicht inhaltlich tatsächlich von dem, was man selbst anfänglich vermutet hat? Nicht
selten ändert sich nach einer umfassenden Gedichtanalyse der Blickwinkel auf das Gedicht. Sich selbst im Schlussteil
einen Fehler einzugestehen ist absolut kein Grund zum Notenabzug, sondern zeigt, dass man das Gedicht im Nachhinein
"durchschaut" hat.
Außerdem eignet sich der Schlussteil für zusätzliche Informationen zum Autor. Unter welchen Bedingungen entstand
das Gedicht? Wem ist es gewidmet? Ist das Gedicht ein typisches Gedicht des Autors? Um solche Informationen überhaupt
geben zu können, braucht man selbstverständlich in der Klausur ein wenig Glück. Weil im Unterricht aber meist nur
eine Epoche umfassend behandelt wird, kann man die Biographien der wichtigsten Autoren der jeweiligen Literaturepoche
einmal überfliegen und hat damit eine äußerst hohe Trefferquote.
Als Abschluss der Gedichtanalyse kann sogar noch die persönliche Meinung zum Gedicht miteingebracht werden. Zu keinem
anderen Zeitpunkt (mit Ausnahme der Interpretationshypothese) dürfen subjektive Wertungen in die Analyse miteinfließen. Die
Analyse muss objektiv bleiben!
Tipps für das Schreiben von Gedichtanalysen:
Gedicht und Aufgabenstellung mehrmals durchlesen und erst dann anfangen!
Aufbau (Einleitung, Hauptteil und Schluss) immer strikt einhalten!
Immer objektiv analysieren und interpretieren. Persönliche Stellungnahme erst im Schlussteil!
Die Überschrift des Gedichts in die Gedichtinterpretation miteinbeziehen!
Das lyrische Ich nicht mit dem Autor verwechseln!
Den epochalen Bezug zum Gedicht herstellen. Was ist stylistisch typisch für Epoche und Gedicht?
Wenn Stilmittel erkannt werden, muss immer auch ihre Wirkung beschrieben werden!
Weiterführende Links:
Wie schreibe ich eine Charakterisierung?
Wie schreibe ich eine dialektische Erörterung?
Wie schreibe ich einen Gedichtvergleich?
Wie schreibe ich eine Inhaltsangabe?
Wie schreibe ich eine lineare Erörterung?
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Wie schreibe ich einen Praktikumsbericht?
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